Der Streit zwischen Polen und der EU: Gedanken über einige Hintergründe
von Prof. Dr. habil. Anton Latzo
Nimmt man Äußerungen von Regierungspolitikern aus Deutschland oder anderen Hauptmächten der EU, ihrer Medien, Stiftungen usw., ergibt sich der Eindruck, Probleme zwischen der EU und Polen bestünde nur deshalb, weil die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine quertreiberische Politik verfolge. Man gewinnt den Eindruck, und das soll offensichtlich so sein, das sei alles nur subjektiv bedingt.
Richtig ist: In der Politik, in den Institutionen, in den Medien, in der Armee, in der Rechtspolitik und in der Wirtschaft Polens, finden seit dem Wahlsieg der PiS im Jahre 2015 bedeutende Veränderungen statt, die von nationalistischen Vorstellungen geprägt sind, wichtige Institutionen des Staates betreffen und Auswirkungen auf die Wirkungsmöglichkeiten des ausländischen Kapitals in Polen und auf die Außenpolitik des Landes haben. Doch es gibt auch eine Geschichte.
Mit der Aufnahme Polens (2004) in die EU wurde die Anbindung und die Unterordnung der polnischen Wirtschaft und Gesellschaft an die ökonomischen Bestrebungen und politischen Ziele westeuropäischer und US-amerikanische Banken und Industriekonzerne endgültig vollzogen.
Aber schon vorher wurden mit dem Washingtoner Konsensus die sogenannten Vier Freiheiten (für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital) einerseits als eigenständige Ziele, aber andererseits als wichtige Instrumente auf Druck der EU in Polen, wie auch in den anderen ehemaligen osteuropäischen RGW-Staaten, durchgesetzt. Man kann auch nicht außer Acht lassen, dass in der Zeit vor der Aufnahme, die auch als „Transition“ und „Transformation“ bezeichnet wird, auch in Polen die Weltbank und der IWF als Instrument zur Durchsetzung des Monetarismus und der Schocktherapie mit dem Ergebnis eingesetzt wurden, dass zum Beispiel die Produktion der Industrie von 1988 bis 1992 um fast die Hälfte zurückging, eine 600-prozentige Inflation erreicht wurde und die Auslandsverschuldung des Landes auf 72 Milliarden US-Dollar (2001) gestiegen war.
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Der Neoliberalismus diente der Rechtfertigung der staatlichen Intervention im Interesse der ausländischen Monopole, zur „Umverteilung“ volkswirtschaftlichen Eigentums in die Hände des ausländischen Kapitals beziehungsweise in seinem Interesse. Damit wurden nicht nur die Machtverhältnisse, sondern deren Grundlagen, die gesamten Eigentumsverhältnisse sowie die gesamte Struktur der Wirtschaft radikal verändert. Die Politik, einschließlich der zu Sozialdemokraten mutierten ehemaligen Kommunisten (Leszek Miller, Kwasznewski), hatte die Aufgabe, diesen Prozess abzusichern und seine konsequente Fortführung im Interesse des Kapitals zu gewährleisten.
Der Westen übernimmt polnische Wirtschaft
In Polen entfallen 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf die Privatwirtschaft, versicherte kurz vor den abschließenden Gesprächen, die die Aufnahme Polens in die EU besiegelten, der damalige polnische Privatisierungsminister Wieslaw Kaczmarek im Oktober 2002. Einen Anteil von insgesamt 54,1 Prozent an den ausländischen Investitionen in Polen haben sich bis Ende 2000 US-amerikanische (16,1 Prozent), deutsche (12,9), französische (17,6) und italienische (7,5) Konzerne gesichert. Im Jahre 2001 befanden sich knapp 70 Prozent des Bankenkapitals in Polen in deutschem, US-amerikanischem und italienischem Besitz. Die EU-Kommission konnte zufrieden sein und erklärte:
Das fortgeschrittene Stadium der Privatisierung des Bankensektors ist eine der größten Stärken der polnischen Wirtschaft.
Zugleich wurde der polnische Außenhandel völlig umorientiert. Fast zwei Drittel der polnischen Exporte und Importe wurden im Jahre 2000 mit der EU abgewickelt. 35 Prozent der Exporte und 24 Prozent der Importe Polens entfielen auf Deutschland, das die Sowjetunion als wichtigsten Handelspartner abgelöst und auf den 9. Platz im polnischen Außenhandel verwiesen hat.
Das Kapital der USA, der Bundesrepublik und der anderen EU-Hauptmächte war – in einer noch nie dagewesenen Massivität – weit in den Osten Europas vorgedrungen. Und man folgte dabei einem Rezept des deutschen Imperialismus, das schon 1936 so formuliert wurde:
Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen wollen, wie dies aus Gründen der wirtschaftlichen Stärke des europäischen Kontinents … unbedingt erforderlich ist und eintreten wird, so dürfen wir aus verständlichen Gründen diese nicht als eine deutsche Großraumwirtschaft deklarieren. Wir müssen grundsätzlich immer von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst und aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geographischen Lage.“ (Werner Daitz, Mitglied der Führung der NSDAP, in einer Denkschrift vom 31. Mai 1936. Zitiert nach Reinhard Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Bonn1994, S. 669)
In die Vergessenheit verbannt waren der Zweite Weltkrieg, der Tod und das Leid von Millionen und die materiellen Zerstörungen. Das polnische Volk wurde durch den Kapitalismus und im Namen der Freiheit (die sie meinen) enteignet.
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Polen wurde damit durch die EU und die imperialistischen Hauptmächte die materielle Grundlage entzogen, die unerlässlich ist für die Gestaltung einer selbständigen, von den Interessen des Volkes und den national-staatlichen Interessen ausgehenden Politik, die allein auch Grundlage einer Politik des Friedens, der guten Nachbarschaft und der gleichberechtigten Zusammenarbeit mit anderen Staaten sein kann. Die grundlegenden Entscheidungen über die weitere Entwicklung Polens wurden jetzt in den Zentralen der internationalen Monopole und der EU getroffen. Sie wurden entsprechend den Erfordernissen der Profitmaximierung der Konzerne, der Fortsetzung der ökonomischen und politischen Expansion nach Osten sowie der geopolitischen Strategie des Imperialismus gestaltet.
Auch das politische System Polens wurde an diese Ziele angepasst. Das erfolgte im Namen der Demokratie und führte zu drastischen Veränderungen, auch im Verhältnis zwischen Volk und Regierenden. Die politischen, geistig-kulturellen Institutionen und die Inhalte ihrer Tätigkeit wurden auf die Gestaltung und Sicherung eines Prozesses ausgerichtet, der nicht von den nationalen Interessen des polnischen Volkes, sondern von der Sicherung der kapitalistischen Entwicklung in Polen entsprechend den Vorgaben der Mächtigen des Kapitals aus den USA und der EU ausging und bestimmt wurde.
Diese Ergebnisse der Konterrevolution mussten gesichert werden, um Möglichkeiten für Profitmaximierung und für die weitere Entfaltung der Geostrategie des Imperialismus zu erhalten und neue zu schaffen. Das sind die wirklichen Ursachen für die Aufnahme Polens und der anderen Staaten des RGW und des Warschauer Vertrages in die EU (und davor in die NATO). Aber für die dann folgende Entwicklung, und für die Gegenwart des konfliktreichen Verhältnisses zwischen Polen und der EU, werden nur und einseitig polnische und subjektive Verhaltensweisen angeführt. Diese imperialistische Politik findet keine Berücksichtigung.
In der Öffentlichkeit (Medien) und in den Anklagereden der EU-Politiker werden stets und einseitig staatsrechtliche Fragen genannt, die zu Problemen der menschlichen, europäischen „Werte“ umfunktioniert und in den Mittelpunkt gestellt werden. Dies erfolgt mit einer Vehemenz und Einseitigkeit, die die tatsächlichen Gefahren, die nicht nur für die Stabilität und künftige Entwicklung in Polen, sondern auch für die Stabilität und Frieden in Europa aus den Prozessen der Neokolonialisierung erwachsen und sich verstärken, verdrängen.
Polens Souveränität wird gezielt untergraben
Die Politik der EU gegenüber Polen beruht nicht nur auf einer Missachtung der Souveränität dieses Staates, sondern ist eine bewusste Verletzung dieser Souveränität. Sie ist durch direkte und unmittelbare Einmischung in die inneren Angelegenheiten gekennzeichnet. Das Diktat der deformierenden imperialistischen Ökonomie des Kapitals beeinträchtigt die Existenzbedingungen des polnischen Staates und die Lebensbedingungen des polnischen Volkes. Das trifft auch auf das Verhältnis der EU zu den anderen osteuropäischen Staaten zu.
Die Geschichte und Gegenwart zeigt also, dass für die Mitgliedschaft Polens in der EU, von den Regierenden in Polen und von den Spitzen der EU nicht die Interessen des polnischen Volkes und der Menschen in den anderen Ländern der EU in den Mittelpunkt der Beziehungen gestellt werden, sondern die Interessen des Kapitals. Es ging und geht nicht darum, das polnische Potenzial, die Reichtümer des Landes in Gestalt von Bodenschätzen, Industrie, Landwirtschaft, Qualität und Ausbildungsstand der Arbeitskräfte in beiderseitigem Interesse zu nutzen und weiterzuentwickeln, und damit die Grundlagen einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu stärken.
Es ging nie darum, die gleichberechtigte Zusammenarbeit im Sinne einer Annäherung der polnischen Volkswirtschaft an das Niveau der entwickelten kapitalistischen Staaten zu betreiben. Bestimmend waren und sind politische Interessen und das Streben nach Profit auf der Grundlage der kapitalistischen Konkurrenz. Das führt direkt zu einem Verhältnis, das von politischem Egoismus, von gegenseitigem Misstrauen und politischer Missgunst geprägt ist. Nicht gemeinsame Nutzung der möglichen Vorteile einer gleichberechtigten Zusammenarbeit, sondern sich gegenseitig ausschließende politische Motive sind bestimmend.
Auf polnischer Seite führt diese Situation, vor dem Hintergrund der ökonomischen Problematik, zur Verschärfung schon vorhandener innerer Widersprüche, verbunden mit einer Verschlechterung der Widersprüche mit den Nachbarn (zum Beispiel bei Nord Stream 2). Es erweitern sich damit auch für die polnischen interessierten Kräfte die Anlässe und Möglichkeiten, nationalistische Politik zu rechtfertigen. Die Mitgliedschaft Polens in der EU hat nicht zur Überwindung der zerstörerischen Wirkungen des Kapitals auf Mensch und Gesellschaft, auf Staat und Politik geführt, sondern Bestrebungen des Imperialismus verstärkt.
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Die geschaffenen Verhältnisse sind nicht kurzfristiger Natur. Sie sind deshalb Grundlage für langfristig wirkende Konflikte und Widersprüche zwischen Polen und der EU als imperialistische Institution – Konflikte und Widersprüche, die die Tendenz der Vertiefung in sich bergen und nicht nur innenpolitische, sondern auch außenpolitische Wirkungen mit direktem Bezug auf die Stabilität der Verhältnisse in ganz Europa haben.
Diese ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in der polnischen Gesellschaft bilden die Grundlage dafür, dass in der herrschenden bürgerlichen Ideologie – die durch antikommunistische und antirussische Verfälschung der Geschichte des Landes und von der katholischen Kirche stark beeinflusst wird - und in der Politik Polens, die beide von den Interessen des Kapitalismus ausgehen, sich die Tendenz revitalisiert, solche kapitalistischen Verhältnisse zu schaffen, die den nationalistisch geprägten Teilen der neuen nationalen Bourgeoisie erneut das letzte Wort über die nationale Wirtschaft und den nationalen Markt sowie über den eigenen nationalen Staat zurückgeben (Pilsudski).
Sie streben nach dem ungeschmälerten Recht, die „eigene Nation“ selbst auszubeuten, und im angeblichen Interesse dieser Nation ihre Innen- und Außenpolitik zu gestalten. Die Wiederkehr des Kapitalismus bewirkte auch die Wiederkehr der alten innerkapitalistischen Widersprüche in neuem Gewand und ihr Wirksamwerden in der Ideologie der Regierenden sowie in der Innen- und Außenpolitik des Landes.
Damit stellt sich die neue Bourgeoisie des Landes aber auch in Widerspruch zur Mehrheit der eigenen Bevölkerung. Sie glaubt diesen Widerspruch lösen zu können, indem sie Antikommunismus einerseits und Russophobie andererseits fördert und propagiert, womit sie nicht nur eine duldende Stimmung für ihre Politik in der Bevölkerung schaffen will, sondern sich auch den imperialistischen Strategien der USA und der EU anzupassen und anzubieten versucht. Mit sogenannten „nationalen“ Losungen, versuchen Ideologen und Politiker der neuen Bourgeoisie in Polen Ziele zu verwirklichen, die dem in- und ausländischen Kapital dienen, die eigenen Ziele verklären und die Bevölkerung täuschen.
Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) versteht es offensichtlich besonders erfolgreich, sich als eine Partei in Szene zu setzen, die um die geschichtlichen Verdienste des Volkes weiß, sie manipuliert und die Errichtung eines Staates anstrebt, „der sich um die Bürger kümmert“. Die von ihr verfolgten „Reformen“, zum Beispiel in der Justiz, die Anlass für den öffentlich breit behandelten Streit mit der EU sind, dienen in Wirklichkeit der Sicherung der Stellung der neuen polnischen Kapitalistenklasse gegen die ausländische Konkurrenz und ihren Beauftragten in Polen.
Deshalb ist zu befürchten, dass sich der Konflikt nicht erledigt, sondern weiter von beiden Seiten instrumentalisiert wird. Die sich daraus ergebenden Gefahren werden durch ähnliche Entwicklungen im Verhältnis zwischen der EU und den anderen Ländern im Osten Europas (Ungarn, Rumänien) potenziert und – in Verbindung mit den anderen Krisenherden (Ukraine und Westbalkan) - die Sicherheit in ganz Europa gefährdet!
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