Meinung

Pipeline-Terror: Das 9/11 der wilden Zwanziger Jahre

Es steht außer Frage, dass künftige unvoreingenommene Historiker die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Rückkehr der Bärenjungen zu Mutter Bär – Donezk, Lugansk, Cherson und Saporoschje – als Wendepunkt der wütenden 2020er Jahre einstufen werden.
Pipeline-Terror: Das 9/11 der wilden Zwanziger JahreQuelle: www.globallookpress.com © Danish Defense Ministry/XinHua

Von Pepe Escobar

Die zugrundeliegende Ehrlichkeit und Klarheit der Rede von Wladimir Putin vom 30. September war ein Spiegelbild seiner Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007. Doch diesmal ging sie weit über das Drumherum des geopolitischen großen Spiels hinaus.

Diese Rede war eine Ansprache an den kollektiven globalen Süden. In einer Schlüsselpassage bemerkte Putin, dass "die Welt in eine Periode revolutionärer Veränderungen eingetreten ist, die von grundlegender Natur sind. Es bilden sich neue Zentren der Entwicklung, in denen die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt".

Indem er eine direkte Verbindung zwischen Multipolarität und der Stärkung der Souveränität herstellte, spannte er den Bogen hin zur Entstehung einer neuen antikolonialen Bewegung, einer turbogeladenen Version der Bewegung der Blockfreien Staaten in den 1960er Jahren:

"Wir haben viele Gleichgesinnte in der ganzen Welt, auch in Europa und den Vereinigten Staaten, und wir spüren und sehen ihre Unterstützung. Eine befreiende, antikoloniale Bewegung gegen die unipolare Hegemonie entwickelt sich bereits in verschiedenen Ländern und Gesellschaften. Ihre Verinnerlichung wird noch zunehmen. Diese Kraft wird die zukünftige geopolitische Realität bestimmen." Am Ende der Rede ging es um Transzendenz – in einem spirituellen Sinne. Der letzte vollständige Absatz beginnt mit "Hinter diesen Worten steht eine glorreiche spirituelle Entscheidung".

Die Moderne nach der Postmoderne begann mit dieser Rede vom 30. September. Sie muss mit äußerster Sorgfalt gelesen werden, damit ihre unzähligen Implikationen erfasst werden können. Und das ist genau das, was schäbiges westliches Geschwafel und ein Korb voller abwertender Adjektive niemals zulassen werden.

Diese Rede war ein präziser Reisebericht darüber, wie wir an diesen strahlend historischen Scheideweg angekommen sind – an dem, um über die Gedanken von Antonio Gramsci hinauszugehen, die alte Ordnung sich weigert, ihren Untergang anzuerkennen, während eine neue Ordnung unaufhaltsam errichtet wird. Es gibt kein Zurück mehr. Die wichtigste Konsequenz aus der weitgehend dokumentierten Tatsache, dass gegen Russland ein hybrider Krieg geführt wird, weil es der neokolonialen Weltordnung im Wege steht, ist, dass sich Russland, zusammen mit den eurasischen Großmächten China und Iran, auf einen totalen Zusammenstoß mit dem Imperium der Lügen vorbereitet hat. Imperiale Vasallen sind in diesem Fall bestenfalls als Kollateralschaden zu verbuchen.

Außerdem ist es bezeichnend, dass Putins Rede auf die Rede des indischen Außenministers Dr. S. Jaishankar folgte, der in der UN-Generalversammlung die "Ausplünderung Indiens durch die Kolonialmacht" in Erinnerung rief. Putins Rede und Russlands Entschlossenheit, den hybriden Krieg und andere Kriege gegen den kollektiven Westen zu führen, bilden das Makrobild.

Das Mikrobild beinhaltet dagegen das Hin und Her auf den Schlachtfeldern in der Ukraine und sogar die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines, ein verzweifelter Schachzug, ausgeführt wenige Tage vor dem Ergebnis der Referenden in der Ostukraine und ihrer offiziellen Anerkennung am 30. September. Wo ist Osama bin Laden, wenn man ihn braucht?

Während sich die Hypothesen darüber, wie der Anschlag gegen die Pipelines begangen wurde, überschlagen, sind einige Dinge ziemlich klar. Russland hatte absolut kein Motiv, die milliardenschwere Energieinfrastruktur von Gazprom zu zerstören. Man hätte sie jederzeit als Druckmittel einsetzen können oder einfach das Gas abdrehen und es an asiatische Kunden weiterleiten – was aufgrund des Sanktionswahns auch getan wurde.

Das Weiße Haus, das von einem senilen Ableser von Telepromptern "geführt" wird und in einer dunklen politisch-wirtschaftlichen Leere versinkt, war mit Sicherheit ahnungslos. Der Hauptverdächtige im Fall der Pipelines ist eine abtrünnige Fraktion im Apparat des Nationalen Sicherheitsrats und des Außenministeriums, jener Teil, der in den Hallen der Macht in Washington als "The Blob" – der Klumpen – bekannt ist. Das sind die Akteure, die eine "US-Außenpolitik" betreiben, deren zentrale Prämisse die Zerstörung Russlands ist, mit den europäischen "Verbündeten" als Kollateralschaden.

Eine unvermeidliche – und sicherlich unvorhergesehene – Konsequenz ist, dass bei dieser neuen Wendung im Krieg der Wirtschaftskorridore jetzt alles auf dem Spiel steht. Keine Pipeline und kein Unterseekabel, egal wo auf der Welt, ist jetzt mehr sicher und kann bei Vergeltungsmaßnahmen zum legitimen Angriffsziel werden. Die Sprengung der Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 ist somit eine Neuauflage des 11. Septembers in der Gestalt von Pipeline-Terror, ohne einen Islamisten mit Kalaschnikow im Anschlag, der sich in einer afghanischen Höhle verstecken und die Schuld auf sich nehmen muss.

Die finanziellen Verluste aus der Zerstörung der Pipelines werden einige wichtige Akteure treffen. Die Aktionäre der Nord Stream AG sind die russische Gazprom (51 Prozent), die deutsche Wintershall Dea AG (15,5 Prozent), die schweizerische PEG Infrastruktur AG, eine Tochtergesellschaft der deutschen E.ON (15,5 Prozent), die niederländische N.V. Nederlandse Gasunie (9 Prozent) und die französische Engie (9 Prozent). Es handelt sich also nicht nur um einen Angriff auf Russland und Deutschland, sondern auch auf große europäische Energieunternehmen.

Nord Stream 2 ist ein technisches Wunderwerk. Über 200.000 Rohrsegmente, die mit rund 15 Zentimeter Beton ummantelt sind und jeweils 22 Tonnen wiegen, wurden auf den Grund der Ostsee verlegt. Und auch wenn es erst so aussah, als sei alles verloren, blieben die Rohre stabil, sie brachen nicht auseinander, sondern sind lediglich durchstochen worden. Gazprom teilte mit, dass es einen intakten Strang von Nord Stream 2 gibt, der "potenziell" verwendet werden könnte. Zudem ist eine Reparatur möglich, wie der stellvertretende russische Ministerpräsident Alexander Nowak betonte: "Es gibt technische Möglichkeiten, die Infrastruktur wiederherzustellen, aber das erfordert Zeit und entsprechende Mittel. Ich bin sicher, dass entsprechende Möglichkeiten gefunden werden."

Doch zunächst will Russland die Täter eindeutig ermitteln.

Henry Kissinger, der schlechte Verlierer

Henry Kissinger, das Orakel des US-Establishments und notorischer Kriegsverbrecher, zelebrierte erneut sein Markenzeichen: die Rückkehr des lebenden Toten. Russland habe "den Krieg bereits verloren", weil seine Fähigkeit, Europa mit konventionellen Angriffen zu bedrohen, für das es jahrzehntelang gefürchtet wurde, "nun nachweislich widerlegt ist". Moskau hat Europa weder mit konventionellen noch mit anderen Mitteln "bedroht" – man hat versucht, Geschäfte zu machen, und die Amerikaner haben das mit aller Macht zu verhindern versucht und dabei sogar auf den Pipeline-Terror zurückgegriffen.

Dieser taktische Sieg der Amerikaner wurde in nur sieben Monaten erzielt, kostete so gut wie nichts und die Ergebnisse mögen beeindruckend erscheinen. Die Hegemonie der USA über das gesamte EU-Spektrum ist nun unangefochten, da Russland seinen wirtschaftlichen Einfluss verloren hat. Aber das wird Moskaus Entschlossenheit – wie in Putins Rede betont –, den Kampf gegen das Imperium und seine Vasallen bis zum Äußersten zu führen, nur noch verstärken.

Auf den Schlachtfeldern der Ukraine bedeutet das, Kiew und seine Unterstützer zu Russlands Bedingungen an den Verhandlungstisch zu zwingen und sie dann zu zwingen, einer neuen europäischen Vereinbarung über die "Unteilbarkeit der Sicherheitsgarantien" zuzustimmen. Man bedenke, dass all dies mit einem einfachen Telefonanruf Ende 2021 hätte erledigt werden können, nachdem Moskau Briefe an Washington und Brüssel geschickt hatte, in denen ernsthafte Gespräche vorgeschlagen wurden.

Tatsächlich sind es die USA, die "den Krieg bereits verloren" haben. Mindestens 87 Prozent der Weltbevölkerung – einschließlich des praktisch gesamten globalen Südens – sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei den USA und dem kollektiven Westen um ein skrupelloses, außer Rand und Band geratenes Imperium handelt.

Laut Henry Kissinger bedeutet "verlieren" auch, dass Russland in nur sieben Monaten 110.000 Quadratkilometer – oder 15 Prozent des ukrainischen Territoriums – eingenommen hat, das fast 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und über acht Millionen Einwohner hat. Auf dem Weg dorthin zerstörten die alliierten Streitkräfte große Teile der ukrainischen Armee, was sie weiterhin rund um die Uhr tun. Milliarden von US-Dollar an verlorener NATO-Ausrüstung beschleunigten den Niedergang der meisten westlichen Volkswirtschaften und ließen die Idee einer amerikanischen Hegemonie verblassen.

Was das ausgeflippte Idiotistan betrifft, so geht der Oscar an seinen Außenminister Antony Blinken, der den Spielplan verriet, indem er sagte, die Sprengung der Pipelines sei eine "enorme strategische Chance". Genauso wie 9/11 eine "enorme strategische Chance" für wahllose Invasionen, Bombardierungen, Tötungen und Plünderungen in den Ländern des Islam war.

Das Schocken und Einschüchtern ist zurück

Die EU ist auf dem Weg in ein todsicheres wirtschaftliches Debakel. Von nun an müsste jede Möglichkeit eines Handels mit Russland die Folge des Zusammenbruchs sowohl der NATO als auch der EU sein. Das könnte stattfinden, aber es wird Zeit brauchen. Wie also geht es jetzt weiter?

Die EU kann sich nicht auf Asien verlassen. Das liegt zu weit weg und in Bezug auf die Kosten für die Verflüssigung und Wiederverdampfung von Flüssiggas (LNG) unerschwinglich. Jede Pipeline – zum Beispiel aus Kasachstan – würde durch Russland verlaufen oder von China über Russland kommen. Turkmenistan kann man vergessen, das Land liefert sein Gas bereits nach China.

Die EU kann sich nicht auf Westasien verlassen. Die Pipeline Turk Stream ist vollständig ausgebucht. Die gesamte Produktion des Persischen Golfs ist bereits aufgekauft. Wenn – und das ist ein großes Wenn – mehr Gas zur Verfügung stünde, wäre es eine kleine Menge aus Aserbaidschan – und Russland könnte diese Verbindung problemlos stören. Iran wird weiterhin vom Imperium sanktioniert, was ein fabelhaftes Eigentor darstellt, während der Irak und Syrien weiterhin von den USA ausgeplündert werden.

Bleibt nur noch Afrika, wo Frankreich derzeit aus einer Nation nach der anderen kurzerhand rausgeschmissen wird. Italien wird möglicherweise Gas aus Algerien, Libyen und den zypriotisch-israelischen Feldern in das deutsche Gasnetz leiten können. Um die Gasfelder in der Sahara und in Zentralafrika – von Uganda bis zum Südsudan – wird es ein wahnsinniges Gerangel geben.

Die Ostsee mag ein NATO-See sein, aber Russland könnte sich leicht dazu entschließen, darin Wellen zu schlagen, indem es unter anderem Flüssiggas in Tankern über Kaliningrad – das im Winter eisfrei ist – an deutsche Seehäfen transportiert. Sollte Litauen versuchen, dies zu blockieren, könnte Herr Kinschal die Angelegenheit durch Vorlegen seiner Visitenkarte regeln. Russland könnte auch den Finnischen Meerbusen nutzen, was für die riesigen russischen Eisbrecher kein Problem darstellt. Das bedeutet, dass Russland mit Leichtigkeit die Konkurrenz ausschalten könnte – wie zum Beispiel das absurd teure LNG aus den USA. Schließlich sind es von Sankt Petersburg nach Hamburg nur etwa 800 Seemeilen und von Kaliningrad gerade mal 400.

Das gesamte Schachbrett wird sich noch vor der Ankunft von General Winter radikal verändern. 9/11 führte zur Bombardierung, Invasion und Besetzung Afghanistans. "Pipeline 9/11" führt zu Schock und Einschüchterung für die NATO, das in der Ukraine stattfinden wird. "Stirb langsam" ist zurück – diesmal mit Rache.

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Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties". Er wurde von Facebook und Twitter aus politischen Gründen gelöscht. Man kann ihm auf Telegram folgen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf englischer Sprache bei presstv.ir. Die Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung.

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