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Der Überraschungsbesuch von Kissinger in Peking zeigt den Ernst der Lage zwischen China und den USA

Man muss anerkennen, dass weder Washington noch Peking Informationen über den Besuch Henry Kissingers in China im Voraus preisgegeben haben. Das deutet darauf hin, dass beide Seiten befürchtet haben, dass der Besuch entgleisen könnte.
Der Überraschungsbesuch von Kissinger in Peking zeigt den Ernst der Lage zwischen China und den USAQuelle: www.globallookpress.com

Eine Analyse von Andrew Korybko

Die Spannungen zwischen China und den USA sind weiterhin sehr ernst, wie der Überraschungsbesuch von Henry Kissinger in Peking zeigt. Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua gab Einzelheiten darüber bekannt und berichtete, dass die graue Eminenz Kissinger bei seinem Treffen mit dem chinesischen Verteidigungsminister Li Shangfu, der von den USA mit Sanktionen belegt wurde, beide Staaten dazu aufgerufen habe, "Missverständnisse zu beseitigen, friedlich zu kooperieren und Konfrontationen zu vermeiden". Der mittlerweile 100-jährige Kissinger hätte diese Reise nach Peking nicht angetreten, wenn er die Situation zwischen beiden Staaten nicht für kritisch gehalten hätte.

Die Handels- und Technologiekonflikte zwischen den USA und China eskalieren zunehmend, während die USA über den Staatenbund AUKUS+ regionale Verbündete zusammentrommeln. Dieser Trend erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Zwischenfalls in der Luft oder auf See im umstrittenen Ost- und Südchinesischen Meer, der durch simple Fehleinschätzung einen für beide Seiten zerstörerischen Krieg auslösen könnte. Gleichzeitig weiß nach Joe Bidens offenem Eingeständnis nun die ganze Welt, dass die Vorräte an Munition der USA aufgebraucht sind, was darauf hindeutet, dass die USA seit Februar 2022 deutlich geschwächt wurden.

Antichinesische Hardliner in der politischen Bürokratie der USA könnten befürchten, dass Peking diese Tatsache – und die Fokussierung Washingtons auf den Stellvertreterkrieg der NATO in der Ukraine – ausnutzen könnte, um gegen Taiwan vorzugehen, ein Szenario, das gemäß antiamerikanischen Hardlinern der politischen Bürokratie Chinas vorschweben könnte. Diese Beobachtung soll einem solchen Ereignisablauf keine Glaubwürdigkeit verleihen und auch nicht im Widerspruch zu Pekings offiziellem Ansatz einer friedlichen Wiedervereinigung mit Taiwan stehen, sondern lediglich den möglichen politischen Kontext hervorheben.

Vor diesem Hintergrund fühlte sich Kissinger wohl verpflichtet, privat einzugreifen, um diese Spannungen zu entschärfen. Auch vor dem Hintergrund seiner führenden Rolle, die er bei der Vermittlung der historischen Annäherung zwischen China und den USA vor einem halben Jahrhundert gespielt hat. Denn wenn ihm die Angelegenheit nicht persönlich so sehr am Herzen läge, würde er nicht seine verbliebene Gesundheit riskieren, indem er über den Pazifik fliegt, nur um Gespräche mit dem chinesischen Verteidigungsminister zu führen.

Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin beklagte kürzlich die mangelnde Kommunikation mit seinem chinesischen Amtskollegen. Die meisten Beobachter führen dies darauf zurück, dass Peking genug Selbstachtung hat, um den wiederholten Forderungen Washingtons nicht nachzugeben, solange die gegen den obersten chinesischen Militär verhängten Sanktionen aufrechterhalten werden. Die Aussicht auf eine Rückkehr zum "üblichen Geschäft", ohne dass diese Sanktionen fallen gelassen werden, könnte einige zu der Annahme verleiten, dass China sich stillschweigend dazu entschlossen habe, den "Juniorpartner" der USA zu spielen. Das ist allerdings recht unwahrscheinlich.

Dennoch könnten beide Seiten von einem informellen Dialog profitieren, wenn dieser über einen vertrauenswürdigen Vermittler wie Kissinger geführt wird. China und die USA haben ein Interesse daran, mehr über die Absichten des anderen zu erfahren, um die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konflikts zu verringern. Zu diesem Zweck müssen sie die Wahrnehmungen ihrer eigenen Hardliner und jener des jeweiligen Gegenübers in den Griff bekommen. Geschieht dies nicht, könnte es passieren, dass einer der beiden Staaten zu kriegerischen Handlungen übergeht.

Ohne mehr Klarheit darüber zu haben, was das Gegenüber erreichen will und wie es in einem Krisenszenario reagieren wird, ist es für Hardliner einfacher, politische Entscheidungsträger auf ihre Seite zu ziehen. Wenn sich das nicht ändert, könnte das ohnehin schon gefährliche Sicherheitsdilemma irgendwann in diesem Jahrzehnt in einen veritablen Krieg münden. Aus dieser Perspektive betrachtet ist Kissingers Besuch in Peking von enormer Bedeutung.

Der größere Kontext, in dem der Besuch stattfand, lässt vernünftigerweise vermuten, dass Kissinger und der chinesische Verteidigungsminister Shangfu versucht haben, einander davon zu überzeugen, dass ihre jeweiligen Staatsoberhäupter keinen heißen Krieg wünschen, wie ihn sich die Hardliner auf beiden Seiten herbeisehnen. Wie dem auch sei, gerade wegen des Einflusses, den diese Hardliner tatsächlich bis zu einem gewissen Grad ausüben, ist es unwahrscheinlich, dass eine der beiden Seiten, als "Geste des guten Willens", einseitige Zugeständnisse machen wird.

Zyniker könnten zu dem Schluss kommen, dass das Fehlen eines greifbaren Ergebnisses bedeutet, dass die abgehaltenen Gespräche die Spannungen nicht entschärft haben und daher nutzlos waren. Aber das zu behaupten ist verfrüht, denn es bleibt abzuwarten, ob die Zusicherung beider Seiten, dass ein Krieg nicht erwünscht ist, die Dynamik der Gestaltung der Politik des jeweils anderen beeinflussen wird. Der einzige Grund, warum diese unvorhergesehenen Gespräche überhaupt stattfanden, war, dass die jeweiligen Staatsoberhäupter den Einfluss ihrer eigenen Hardliner und jener der anderen Seite eindämmen wollten.

Man muss anerkennen, dass weder Washington noch Peking die Nachricht über Kissingers Besuch in China im Voraus preisgegeben haben, was darauf hindeutet, dass beide Seiten befürchtet haben, dass dieser Besuch entgleisen könnte. Indem sie diese Nachricht bis zum Abschluss der Gespräche zwischen Kissinger und Verteidigungsminister Shangfu geheim hielten, signalisierten sich die chinesische und die US-Regierung einander, dass sie diesen informellen Dialog aufrichtig begrüßen. Man einigte sich anschließend darauf, die Öffentlichkeit im Nachhinein über Kissingers Besuch zu informieren, um die Hardliner davon abzuhalten, die Sache im Voraus verschwörerisch für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Da der Zweck dieser Gespräche darin bestand, dem jeweils anderen zuzusichern, dass ein Krieg nicht erwünscht ist, und herauszufinden, ob das Gegenüber genauso denkt, ist damit zu rechnen, dass die Erkenntnisse dieser Gespräche nach einer gewissen Zeit in die jeweiligen politischen Bürokratien eindringen werden. Das hat es zugleich unmöglich gemacht, den Besuch Kissingers auf unbestimmte Zeit geheim zu halten, weshalb die Nachricht direkt nach Ende der Gespräche veröffentlicht wurde, was auch ein wichtiges Signal an die internationale Gemeinschaft war.

Die Führungen Chinas und der USA wollten die Welt wissen lassen, dass keiner von beiden einen bewaffneten Konflikt anstrebt, und gleichzeitig die Sorge zum Ausdruck bringen, dass der gegenwärtige Verlauf der Spannungen den Einfluss der Hardliner befeuern wird, sodass ein bewaffneter Konflikt unausweichlich werden könnte, wenn diesem Einfluss nicht entgegengewirkt wird. Aus diesem Grund wurde wohl vereinbart, dass Kissinger der Volksrepublik China einen geheimen Besuch abstattet, um informell einen Dialog zur Bewältigung des brandgefährlichen Dilemmas einzuleiten.

Es ist noch zu früh, den Erfolg der Bemühungen von Henry Kissinger auf die eine oder andere Weise einzuschätzen. Beobachter können lediglich erkennen, dass auf höchster Ebene ein gegenseitiges Interesse besteht. Nach all dem, was seit dem Vorfall mit dem sogenannten "Spionageballon" im vergangenen Februar passiert ist, ist eine weitere Entspannung wahrscheinlich nicht unmittelbar in Sicht, weshalb das Beste, was man sich wünschen kann, darin besteht, dass die Hardliner irgendwann ins Abseits gedrängt werden, um Raum für Pragmatiker zu schaffen, die realistische Szenarien der Deeskalation ausprobieren.

Aus dem Englischen

Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.

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